Acht
Es war 10 Uhr am nächsten Vormittag, als ich bei Hannah ankam. Ich hob die Faust, um zu klopfen, da sprang die Tür schon auf.
»Komm rein«, sagte Hannah und hüpfte sogleich
wieder der die Treppe hinauf.
Der Laptop auf ihrem Schreibtisch war schon hoch-
gefahren. Ich kramte den USB-Stick aus meiner Hosentasche und sie begann, die Dateien auf die Festplatte zu überspielen.
»Du hast doch nichts dagegen?«
»Ist doch eh schon passiert«, sagte ich mit Blick auf
den grünen Kopierbalken, der soeben wieder vom Bildschirm verschwand. Wir setzten uns an ihren Schreibtisch. »Mach den Ordner mit der Bezeichnung Anne auf«, sagte ich und spürte, wie mir die Aufregung vom Kopf in den Bauch kroch.
Hannah klickte mit dem Mauszeiger auf das Sym-
bol. Wieder wurde eine Liste von pdf-Dateien sichtbar.
»Sicher auch Artikel aus Zeitungen«, sagte ich. Aber
dann beugte ich mich etwas vor und schaute mir die Liste genauer an. »Die Dateien sind ziemlich alt, die meisten fast zwanzig Jahre.«
»Das erste Mädchen«, flüsterte Hannah.
Ich sah das ebenso und konzentrierte mich wieder
auf den Monitor. »Das hier ist ein Video.« Ich tippte mit dem Zeigefinger auf die oberste Datei.
Hannah klickte sie an. Zuerst sah man gar nichts,
doch dann begann der Monitor zu krisseln und schließlich kamen die Bilder. Ganz außen konnte man die Umrisse eines Fernsehers erkennen, keine moderne Flachbildtechnik, sondern ein altes Röhrengerät.
»Alles klar«, sagte Hannah. »Hier wurde eine VHS
oder Hi8-Kassette abgespielt und der Fernseher dann digital aufgenommen.«
Die Qualität der Bilder war dürftig und wir schoben
unsere Köpfe dicht vor den Laptop.
Zwei Mädchen standen in der Abenddämmerung auf einem gepflasterten Platz. Eines der beiden war dunkelhaarig und fast schon eine Frau. Das andere Mädchen schien ein paar Jahre jünger zu sein. Seine blonden Haare waren kunstvoll zu einem französischen Zopf geflochten. Blumenrabatten und Bänke befanden sich in loser Anordnung auf dem Platz. Viele junge Menschen standen in der Nähe, die meisten in Gruppen. Einige hielten Flaschen in den Händen, manche rauchten. Die Stimmung war laut und ausgelassen. Im Hintergrund konnte man den Eingang eines zweigeschossigen Gebäudes erkennen. Aus dem Innern des Hauses drang Musik.
Die Mädchen blickten fröhlich in die Kamera.
»Meine Damen und Herren«, trötete die Ältere und breitete theatralisch die Arme aus. »Anne Feldmann wurde gestern vierzehn Jahre alt und steht jetzt vor ihrem ersten Discobesuch.« Sie hielt Anne einen als Mikrofon-
ersatz dienenden Kugelschreiber vor den Mund. »Was sagst du dazu?«
Eine Gruppe grölender Jungs lief durch das Bild,
sodass Annes Antwort nicht zu verstehen war.
Ich schaute zu Hannah. Sie nickte kurz und ich
wusste, dass auch sie in dem dunkelhaarigen Mädchen ihre Mutter erkannt hatte. Auf dem Video musste sie ungefähr so alt sein, wie wir heute.
Aus dem Nichts war plötzlich eine weitere Stimme
zu hören, offensichtlich die Person mit der Kamera. »Meine Mutter hat es aber verboten, wir sollten sie nach Hause bringen.«
Fiona runzelte die Stirn. »Hab dich nicht so, Eva.
Das ist mein Geburtstagsgeschenk für deine Schwester.«
Ich zuckte zusammen und nahm aus den Augen-
winkeln heraus wahr, dass es Hannah ebenso ging. Unsere Mütter waren tatsächlich Freundinnen gewesen. Und wenn ich richtig gehört hatte, war diese Anne die Schwester meiner Mutter. Warum hatte sie nie etwas davon erzählt? Wir konzentrierten uns wieder auf das Video.
»Aber nur drei Stunden, wie abgesprochen«, gab
Eva nach.
Dann gab es einen Schnitt und der Bildschirm wurde
schwarz. Nach ein paar Sekunden ging es jedoch weiter, diesmal im Innern des Gebäudes. Einige Minuten lang waren basslastige Musikrhythmen zu hören und man sah tanzende Jugendliche inmitten zuckender Lichtkegel. Dann der nächste Schnitt und wieder Bilder vom Platz vor der Disco. Mittlerweile war es dunkel. Der Schein der umliegenden Laternen sorgte aber dafür, dass man trotzdem einiges erkennen konnte. Viele der Jugendlichen auf dem Platz waren angeheitert, einer lag wie tot auf
einer Bank, ein dunkler Fleck, wahrscheinlich eine Pfütze Erbrochenes, daneben.
Fiona kam gerade aus dem Gebäude und so wie sie
schwankte, schien sie ein paar Gläschen getrunken zu haben. »Wo ist Anne!«, rief sie mit schwerer Zunge und drehte sich im Kreis, wobei sie hin und wieder einen Ausfallschritt machen musste, um das Gleichgewicht zu halten.
»Hinter dir«, hörte ich Eva, die wieder die Kamera
hielt. »Beeil' dich, Anne muss endlich nach Hause.«
Fiona stellte sich neben Anne und legte den Arm um
deren Schulter. »Alle mal herhören«, nuschelte sie. »Anne Feldmann hat heute ihre Feuertaufe bestanden. Sie ist jetzt eine von uns. Sozusagen eine Disco-Queen.« Sie kicherte albern.
»Kann ich die Kamera jetzt ausstellen, oder hast du
vielleicht noch etwas Sinnvolles zu sagen?« Die Stimme von Eva klang gereizt.
Fiona zog einen Schmollmund. »Mission erledigt«,
lallte sie und führte zackig die Hand an die Stirn. Dann schwankte sie ein paar Schritte zur Seite und ließ sich auf eine Bank fallen. »Geh wieder rein, Eva«, seufzte sie und rieb sich die Augen. »Hab noch ein paar schöne Stunden. Ich bringe Anne nach Hause.«
Eva ließ die Kamera sinken, hatte aber offensichtlich
vergessen, sie abzuschalten. Auf dem Bildschirm waren jetzt wackelige Aufnahmen des Platzes zu sehen. Die Stimmen hörte man aber noch deutlich.
»Du bringst sie direkt nach Hause, hörst du Fiona.«
»Zu Befehl, Herr General...« - kichern - »...pardon,
Frau Generalsuperoberstaatsanwaltschefin.«
»Reiß dich zusammen«, sagte Eva genervt. »Hier,
nimm die Kamera mit.«
Kurz war das Gebäude zu sehen, im nächsten Mo-
ment das Betonpflaster des Platzes, dann ein flüchtiger Schwenk über eine Gruppe Jugendlicher.
»Komm, Anne«, sagte Fiona müde. »Bis Morgen,
Eva.«
Dann wurde es ruhiger und irgendwann waren nur
noch die gedämpften Schritte der beiden Mädchen zu hören. Der Bildschirm zeigte ein krümeliges Grau, hin und wieder erahnte man schemenhafte Bewegungen. Plötzlich wurde es gänzlich still, die Mädchen waren stehengeblieben.
»Psst«, hörte man eine der beiden zischen. »Hast du
das gehört?«
Anne und Fiona lauschten - Hannah und ich lausch-
ten. Anne und Fiona starrten suchend in die Nacht - Hannah und ich stierten gebannt auf den Monitor. In diesem Moment waren wir zu viert, und doch zwanzig Jahre voneinander entfernt.
Dann kam der Schrei, plötzlich und schrill. Ich
zuckte zusammen, Hannah rutschte mit ihrem Stuhl zurück.
»Lauf weg!«, kreischte Fiona.
Die dunkelgrauen Bilder wackelten jetzt heftig,
Schatten zuckten durcheinander, panische Hilferufe sprangen aus dem Monitor in Hannahs Zimmer. Dazu ein akustisches Gemisch aus Kratzen, Zischen und Knattern. Und schließlich nur noch monotones Rauschen.
Ich starrte auf den leeren Bildschirm. Mein Puls raste und mir wurde übel. Ich schwankte auf die Terrasse und stützte mich auf das Geländer. Die frische Luft machte es aber nicht besser.
Hannah kam hinterher. »Was bedeutet das alles?«
»Das blonde Mädchen ist meine Tante. Ich wusste
nicht einmal, dass es sie gibt.«
»Oder gab«, flüsterte Hannah.
Damit hatte sie angedeutet, was auch ich dachte.
»Sie war die Nummer 1«, sprach ich es aus. »Das Mädchen, das nie wieder aufgetaucht ist.«
